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Hochempfindsamer Beziehungskiller


Wie fühlt sich das an? Du willst dich mit nahen Freunden treffen. Ihr habt euch schon länger nicht mehr gesehen. Freudig siehst du dem Beisammensein und Austausch entgegen. 2 Stunden vor der Abfahrt fühlst du dich plötzlich ausgelaugt und wie gelähmt, Schachmatt gesetzt. Es gibt keine andere Möglichkeit, als den schönen, gemütlichen Abend abzusagen. 

Mein Akku war vorher noch auf 70 % und ist jetzt auf 30 gefallen. Es ist, wie jemand mich mit dem Hochdruckreiniger mit Müdigkeit, Schmerzen, Überforderung und Anspannung abspritzt. Eigentlich bräuchte ich jetzt Zeit, um wieder zu mir zu finden, zur Ruhe kommen zu können. Meine Alltagsfilter sind komplett verstopft. Die Kollegin, die plötzlich reagiert, als hätte ich sie tödlich beleidigt, der Manager, der das ganze Zugabteil zusammen telefoniert, das Kreischen der Züge im Bahnhof. Die ganzen (normalen) täglichen Eindrücke überfordern mich und dringen nun ungefiltert in meine Seele. Wenn ich nicht vereinsamen will, muss ich meine Beziehungen pflegen. Trotzdem stosse ich dabei täglich an meine Grenzen. 

Schlafen - Pendeln - Arbeiten - Essen - Schlafen

Ich wohne in Thun und arbeite in Zürich. Das heisst jeden Tag um 04:15h Aufstehen, um 07:05h in Zürich mit der Arbeit beginnen, um 16:00h nach Hause fahren und um 18:00h endlich wieder die Wohnungstüre öffnen. Da bleibt oft nur noch Zeit zum Essen, ein bisschen TV schauen und um ins Bett zu gehen.

Meine Hobbys habe ich bis auf das Musizieren im Verein praktisch alle aufgegeben. Mein Zimmer und die Garage sind voll von Freizeitprojekten, die ich irgendwann mal anfangen will. Am Abend kann ich als hochempfindsamer Mensch nicht einfach auf Knopfdruck von Arbeit auf Feierabend wechseln. Da meine Filter oder Abgrenzung nur unzureichend funktionieren, benötige ich viel Zeit, um meinen Kopf wieder zu leeren. Das viel gerühmte Durchlüften beim Sport funktioniert bei mir nicht. Durch den Arbeitsweg von 3:20h Hin und Zurück bin ich meistens zu erschöpft.

Warum suchst du dir keinen anderen Job? Das habe ich versucht. Es wurden gegen 100 Stellenbewerbungen. Aber auf jemanden Mitte 50 mit meiner Ausbildung wartet niemand. Ich bin froh und sehr dankbar, dass ich noch arbeiten kann und darf. Im Moment bin ich noch in der privilegierten Lage, dass ich mir beim Einkaufen auch mal etwas Leckeres gönnen kann. Das kostet mich aber sehr viel Energie, von der ich eigentlich zu wenig habe.

Das Herz sagt Ja, der Geist und Körper sagen Nein.

Mein Bedürfnis nach Zeit für mich alleine ist im Vergleich zu Menschen ohne Hochempfindsamkeit riesengross. Ich freue mich auf die Proben in der Musikgesellschaft. Vereinsmitglieder zu treffen, auszutauschen und gemeinsam zu musizieren. Doch oft muss ich mir eingestehen, dass es mich total überfordern würde. Nach einem Tag, überwältigt von Eindrücken, Emotionen, Schmerzen wäre meine Seele wie ein Regenfass, dass beim Wolkenbruch überläuft. 

Partner*innen von hochempfindsamen Menschen brauchen sehr viel Verständnis und müssen ihre Bedürfnisse oft (viel zu oft) zurückstellen. Gesunde Beziehungen sind geprägt vom Geben und Nehmen. Oft (viel zu oft) muss ich mich aber so stark auf mich konzentrieren, dass ich die Anliegen meiner Frau praktisch ausblende. 

Ja, Hochempfindsamkeit kann zu einem Beziehungskiller werden. Ich habe keine Lösung und bitte einfach nur um ein bisschen Verständnis, dass mein Herz Ja, mein Geist und Körper aber Nein sagen.

Vielen Dank für das lizenzfreie Foto von Stormseeker auf Unsplash