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Ich glaube an das Schlechte im Menschen


Was hat ein Jahr in und für die Kunden mit mir gemacht?

Am Anfang...

...war meine Freude, Menschen helfen zu können. Endlich konnte ich meine Fremdsprachenkenntnisse wieder einsetzen. Ich wollte den Kunden mit meinem Wissen dienen, und sie unterstützen, damit sie schneller an ihr Ziel gelangen. Als feinfühliger Mensch kann ich Menschen und Situationen gut einschätzen und darauf eingehen. Der Standardsatz: "Mein Gegenüber abholen, wo die Person gerade steht." war für mich Praxis und keine Theorie. Die ersten paar Monate ging das sehr gut. Ich war den Eindruck, angekommen zu sein und verspürte Freude an meinem Job.

Meine Hauptaufgabe...

...war, Menschen beim Ein-/Aus- und Umsteigen zu helfen. In den Zwischenzeiten beantwortete ich allgemeine Fragen, unterstützte die Menschen an den Automaten oder beim Gepäckeinstellen. Das war, ist und bleibt eine sehr dankbare und sinnvolle Tätigkeit.

Mit einer einzigen Ausnahme (eine Politikerin) waren meine direkten Kunden, die Menschen im Rollstuhl, nett aufgestellt, humorvoll und dankbar. Mit manchen bin ich per Du und öfters haben wir auch über Persönliches miteinander ausgetauscht.

Auch meine Arbeit in der Information war zu einem guten Teil befriedigend und erfüllend. Mein Highlight war, als ich einen Reisenden, der einen Schwächeanfall hatte, unterhakte und ihn zum anderen Bahnsteig begleitete, worauf mich seine Begleitung unbedingt umarmen wollte. Ich bin sonst überhaupt nicht der Berührungstyp und gehe grundsätzlich auf Abstand. Aber da merkte ich, dass es ihr eine Herzensangelegenheit war, liess ich es zu.

Regeln sind da...

...um gebrochen zu werden. An Orten, wo viele Menschen aufeinander treffen, braucht es Regeln, die ein gefahrloses Nebeneinander und ein entspanntes Miteinander ermöglichen. Wie im Strassenverkehr gefühlte 8 von 10 Velofahrer die Signale missachten, steigen im Bahnhof, in den Unterführungen und auf den Bahnsteigen 3 von 10 Personen nicht vom Kickboard, Rollbrett oder Velo. Der Vogel abgeschossen hat ein Mann, auf dem Fahrrad, ein Kind im Sitz, der durch wartende Menschen fuhr, währenddessen ein Schnellzug passierte. Als ich ihn auf die Gefahr hinwies meine er abschätzig, es sei nicht meine Aufgabe, ihm etwas zu sagen. Er passe schon auf.

Trotz Raucherzonen auf allen Bahnsteigen, wird gepafft und gekifft, was das Zeug hält. Zigarettenkippen werden vorsätzlich auf dem Mobilift detoniert. Rollstuhlfahrende kommen so in den Genuss von zerdrückten Tabakresten direkt auf ihrer Augenhöhe. Man ist zu faul, aufzustehen und max. 5 Schritte zu gehen, um den Abfall korrekt zu entsorgen. Man verteilt Reste von Pommes, Saucen und die Tüten lieber genüsslich auf der Sitzbank. Als ich jemanden bat, seinen Unrat im Abfalleimer zu entsorgen, lies er ihn demonstrativ vor mir auf den Boden fall und meinte überheblich: "Kannst ihn ja selber auflesen und entsorgen."

Die Mitarbeitenden an der Front...

...sollten doch die Kunden und Kundinnen auf ihr fehlbares Verhalten aufmerksam machen. Solche und ähnliche Vorschläge kommen, wenn wundert 's, von Menschen, die zwar in der gleichen Firma, aber fernab vom Zugverkehr, in ihren modernen Büros sitzen. Ich, mit meinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, bin dem nachgekommen. Immer freundlich und auf keinen Fall konfrontativ, habe ich sachte auf die Regeln hingewiesen.

Von 10, ist höchstens 1 Person dem gefolgt. Meistens wurde ich ignoriert. Öfters mal wurde ich zurechtgewiesen. "Ich habe ihr (der Mutter) gar nichts zu sagen. Sie passe schon auf ihr Kind auf." Genau das Kind, dessen Kickboard beinahe ins Gleisbett gefallen war. Randständige haben da deutlich weniger Hemmungen. Arschloch fahr zur Hölle. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, schlage ich dich zusammen. Pass auf, dass du nicht im Gleis landest. Du Hurensohn hast mir gar nichts zu sagen. 

Nach etwa 4 Wochen in der neuen Tätigkeit hörte ich damit auf. Auch wenn ich mich als loyaler Mitarbeiter mitverantwortlich fühle, dass unsere Kunden angenehm reisen können, meine eigene Sicherheit ist mir wichtiger! Den Satz "Wie man in den Wald ruft, so kommt es zurück", lasse ich so nicht gelten. Ich bin bei weitem nicht perfekt. Freundlichkeit kann ich aber auf einem professionellen Niveau!

Gewalttätige Kommunikation...

...scheint immer alltäglicher zu werden. Meistens liest man in den Volksdenunzianten Blätter von nau bis 20min, wie sich wieder jemand geprügelt hat. Natürlich, wie es sich gehört, mit einem Gaffervideo oder Nahaufnahmen vom Tatort schön für die Allgemeinheit dokumentiert. 

Im letzten Jahr musste ich 2 körperliche Übergriffe erleben. Nicht zu reden von den ständigen Grenzüberschreitungen, wenn sich Menschen ein paar wenige cm vor meiner Nase aufpflanzen und mich lauthals und drohend auffordern, ihren Fragen zu antworten. Wehe die entsprechen nicht zu 100% ihren Vorstellungen, dann wird zuerst gegen die Firma und öfters gegen mich persönlich gewettert und geflucht.

Rücksichtslosigkeit und Egoismus...

...ist die Basis um sich Heute durchzusetzen. Wenn ich nicht haargenau die Antwort oder Dienstleistung erhalte, die exakt meinen Vorstellungen entspricht, lasse ich buchstäblich die Sau raus. Kein Anliegen zu klein, ein Shitstorm zu sein - oder zu werden.

Ich erinnere mich an die Frau aus Asien, die mir buchstäblich das Einsteigebrett aus den Händen reissen wollte, währenddessen der Kunde darauf am Einsteigen war. Egal ob die Kundin im Rollstuhl bereits in der Zugtüre steht, Mann und Frau drängt sich vorbei, als stände der Wagen im Vollbrand. Türe offen - raus!

Sobald man als Mitarbeitender des ÖV erkennbar ist, werden die grundlegenden Anstandsregeln und der Respekt zweitrangig oder vergessen. Ich Kunde will!!! "Train to Zürich", in einem Ton als hätte ich das teuerste Porzellan der Herrschaften zerschlagen. Ist man an einer Beratung, wird man selbstverständlich unterbrochen. "Jetzt komme ich und alle anderen haben zu warten:" 

Ich bin..

...fassungslos, wie Menschen miteinander umgehen und was sie sich antun können. "Be  kind to eachother." (Seit nett zueinander) gilt auf jeden Fall nicht im öffentlichen Verkehr. Als hochempfindsamer Mann, kann ich mich zu wenig abgrenzen. Auch wenn die Angriffe (unter der Gürtellinie) meistens nicht persönlich formuliert sind, kommen sie bei mir oft so an.

Bei sichtlich suchtkranken Menschen überrascht mich eine gewisse Aggressivität und Gewaltbereitschaft nicht. Ich wurde aber von einem Chauffeur eines Limousinenservices am Kragen gepackt, weil er mir das Namensschild abreissen wollte. Das nur, weil er der festen Überzeugung war, dass ich meine Arbeit nicht seinen Ansprüchen entsprechend ausführe. Als ich jemandem sagte, dass ich zuerst ein Kundengespräch beende und er warten solle, wurde er handgreiflich und bettitelte mich Hurensohn und Arschloch. Meine Kolleg:innen meinten dazu, Göschenen - Airolo (in einem Ohr rein, im anderen raus). Aber ich kann das nicht. Bei mir bleibt die Scheisse regelmässig und viel zu lange im Tunnel meiner Seele stecken, bis ich es endlich gelingt, die Verletzungen rauszukotzen.

Kein Mensch hat, das Recht, meine Grenzen zu überschreiten. Als ich ihn mir mit der ausgestreckten Hand vom Leibe hielt, teilte mir die Transportpolizei mit, dass ich zuerst reagiert habe und ich angeklagt werden könne. Es kann doch nicht sein, dass Mitarbeitende an der Kundenfront, wie der letzte Dreck behandelt werden und man sie nach Lust und Laune traktieren darf. Von der Polizei kannst Du keine Hilfe erwarten! Sie reagieren erst, wenn es zu spät ist und dann auch noch äusserst desinteressiert. Das musste ich leider für Euch testen. Im Zweifel für den Täter!

Ich musste bereits in meiner Kindheit und Jugend Grenzüberschreitungen erleben. Das hat mich geprägt. Bis vor meinem Stage war ich der Meinung, dass wir miteinander menschlich umgehen können, aber da habe ich mich getäuscht. Ich zeigte Verständnis für Menschen in Ausnahmesituationen (beim Ein-/Aussteigen vom Zug). Jetzt habe ich keines mehr. Wenn mich jemand anmotzt und seinen Frust bei mir ablassen will, antworte ich ihm professionell, freundlich aber bestimmt und setze Grenzen.

Mein Einfühlungsvermögen musste ich in diesem Jahr bewusst zurückschrauben. Mein Verständnis für Bettler, die trotz Verbot Menschen belästigen, ist nicht mehr da. Mir ist egal welcher Ethnie ein Mensch angehört, wer meint, mich wie ein Fussabtreter behandeln zu können, dem sage ich das klar und verständlich, dass das nicht geht.

Das Positive...

...gab es auch. Aber es hätte viel mehr davon gebraucht, damit ich all die Respektlosigkeit, den fehlenden Anstand und Übergriffe nur halbwegs vergessen könnte. Ich bin ein Mensch und kann meine Gefühle nicht einfach abstellen. Leider ist (in mir) in diesem Jahr sehr viel kaputtgegangen. Zu viel!

Ich danke Pexels für das kostenfreie Foto