Ich bin Kunde - arrogant - egoistisch - überheblich
Was erwartest du von einem Mitarbeitenden im Supermarkt? Was erwartest du von einem Mitarbeitenden in Uniform auf dem Bahnsteig? Was dürfen diese Personen von dir erwarten? Sind es deine Diener? Erwartest du von ihnen, dass sie dir jede Frage sofort und kompetent beantworten, egal um was es sich handelt? Bemühst du dich, sie freundlich anzusprechen?
Ich arbeite als Kundenassistent
Meine Hauptaufgabe ist, Menschen mit eingeschränkter Mobilität beim Ein-, Aus- und Umsteigen vom Bahnhofeingang bis auf die Bahnsteige zu unterstützen. Damit meine Kunden, das Zugpersonal und die Lokführer mich klar erkennen, trage ich eine orangerote Warnweste. So bin ich für alle gut sichtbar, wenn ich z. B. einen Mobilift schiebe, damit ein Rollstuhlfahrer aussteigen kann.
99,9 % meiner Kunden sind nett, aufgestellt und dankbar. Mit vielen bin ich unterdessen per du. Zu einigen habe ich ein Verhältnis aufgebaut, dass wir uns auch mal erzählen, was uns persönlich bewegt. Gefühlte 80 % der Kunden verhalten sich rücksichtsvoll, räumen sofort den Platz, bevor ich die Sitze im Zug für den Rollstuhl hochklappen will. Sie warten selbstverständlich, wenn ich das Brett beim Einstieg hinlege, damit meine Kunden in den Vorraum vom Abteil fahren können. Gefühlte 20 % der Reisenden, verhalten sich aber gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen arrogant, egoistisch und überheblich. Gegenüber mir vergessen sie öfters jede Form von...
Anstand und Respekt
Neben meiner Hauptaufgabe arbeite ich an den neuralgischen Punkten im Bahnhof als Kundenassistent. Ich unterstütze Bahnreisende im Fahrkartenkauf an den Automaten oder informiere sie über die nächsten Zugverbindungen. 99,9 % sind dankbar für die Hilfe. Viele zeigen sogar Verständnis, wenn störungsbedingt, keine Fahrkarten gelöst werden können oder Züge Verspätung haben. Da sind aber immer noch die 20 % von vorher, die nicht wissen, wie sie sich zu benehmen haben. Jeden Tag werde ich angemotzt, jeden 3. Tag erlebe ich einen verbalen Übergriff und ca. alle 3 Wochen werde ich bedroht. Ich kann Sätze wie: "Es gibt keine unfreundlichen Kunden." "Der Kunde hat das Recht, sich zu beschweren", nicht mehr hören.
Hat der Kunde aber auch das Recht, mich wie sein Fussabtreter zu behandeln? Hat er das Recht, mich mit Schimpfwörtern der untersten Schublade zu betiteln? Steht es ihm zu, mich wie ein Mitglied der unberührbaren Kaste zu behandeln?
Du musst auf jeden Fall freundlich bleiben! Mit dem musst du umgehen können! Du musst sachlich bleiben! Versuch, dein Gegenüber abzuholen, wo es ist! Das ist für mich zum grössten Teil blanke Theorie. Man verschliesst bewusst, die Augen vor dem Problem der aggressiven Kunden. Mitarbeitende, egal in welcher Branche, werden wenig bis gar nicht geschützt. Das ist Fakt und lässt sich nicht wegdiskutieren oder schönreden!
Ich bin "immer" freundlich
Es ist meine Aufgabe, Kunden zu unterstützen! Wer mich normal und noch besser anständig fragt, erhält eine gleiche Antwort, die ich öfters mit einem Lachen quittiere. Ich kann gut auf Menschen eingehen. Durch meine fundierten Fremdsprachenkenntnisse bin ich in der Lage, auch ausländische Gäste kompetent zu beraten. Durch mein Einfühlungsvermögen (Hochempfindsamkeit) erfasse ich auch, wenn sich die Kunden in einer angespannten Situation befinden. In einem solchen Fall kann ich auch eine forsche, gefrustete oder genervte Fragestellung freundlich und ruhig beantworten.
Ein paar Kostproben
Oft werde ich direkt und überheblich angemotzt: Geneva! Guten Tag, Sie wünschen? Geneva! Hello, what do you like to know? Geneva! Sorry?
Mit Vorliebe werde ich unterbrochen, wenn ich bereits mit einem Kunden beschäftigt bin. Ganz egoistisch nach dem Motto, jetzt komme ich und alle anderen haben zu warten. Wenn ich ihn freundlich und bestimmt darauf hinweise, dass mein Gesprächspartner vor ihm da war, werde ich trotzdem mindestens 1 - 2x unterbrochen.
Oft werde ich mitten in einem Ein-/Auslad angesprochen aka gestört. Selbst wenn diese Tätigkeit meine volle Aufmerksamkeit verlangt, und das klar sichtbar ist. Es ist egal, sie wollen jetzt, sofort bedient werden. Eine Kundin kreischte mich mitten im Handling an: I want this! I want this! Sie war kurz davor, mir das Brett für den Rollstuhl zu entreissen, weil sie es für den Einlad ihres Kinderwagens benutzen wollte.
Ein Besoffener beschwerte sich bei der Kollegin, weil er den Zug verpasst hatte. Der war gar nicht angeschrieben! Der hat nicht gewartet. Ihr seid doch eine verfickte, verschissene Eisenbahn.
Gefühlte 40 % der Menschen, die mich ansprechen, halten es nicht für nötig, mich zuerst zu begrüssen. Normal sind: He sie oder noch öfters, He du! Manche merken das, wenn ich sie zuerst freundlich und höflich willkommen heisse, manche ignorieren das und wiederholen ultimativ ihre Fragen aka Forderungen.
Ach ja, ich bin die Bahn und ich bin der Bahnhof. Ich muss alles wissen. Es reicht nicht, wenn ich sie an weitere Stellen verweise, die ihre Fragen beantworten können. Nein, ich will meine Information hier und jetzt!
Noch schlimmer wird es, wenn ich Menschen freundlich auf teilweise lebensgefährliches Fehlverhalten aufmerksam mache. Als ein Kind auf dem vollen Bahnsteig mit seinem Kickboard Kurven drehte, intervenierte ich kurz bevor der Zug einfuhr. Die erboste Antwort war: Das ist mein Kind! Ich passe schon auf! Ich erziehe es, wie ich es für richtig halte!
Wenn ich Kunden vor Randständigen schützen will, die sie bedrängen, wurde ich auch schon mit dem Leben bedroht: Beim nächsten Mal, erschlage ich dich.
Es lässt mich nicht kalt
Solche Gespräche (???) finden aus meiner Sicht definitiv nicht auf Augenhöhe und im gegenseitigen Respekt statt. Es ist mir bewusst, dass ich den Arbeitgeber repräsentiere. Aber den ganzen Scheissdreck muss trotzdem ich alleine schlucken. Solche Erlebnisse hallen zu stark und zu lange in mir nach. Meistens hinterfrage ich mich. War ich doch unabsichtlich, zu wenig genug freundlich? Habe ich den Kunden unwissentlich provoziert? Was für Möglichkeiten habe ich damit umzugehen?
Ich blende das Erlebnis aus und vergesse es. So etwas gelingt mir nur teilweise. Ich grenze mich stärker gegenüber diesen Kunden ab. Das ist eine Möglichkeit, heisst aber auch, ich muss meine einfühlsame Art, hinter einer Maske verstecken. Vom Arbeitgeber erhalte ich "nur" nur gutgemeinte, aber schlecht umsetzbare Ratschläge. "Du musst dich aus dem Konflikt entfernen". Dass das den "Kunden" noch mehr erzürnt und er mir nachläuft, am Arm packt, ist noch nie im Leben passiert. Ich bin ein Mensch! Ich habe Gefühle! Ich bin nicht, die Firma!
Die Firma kann mehr tun
Man kann z.B. lernen, wie ich auf freundliche und zuvorkommende Art einem Gegenüber sage, dass sein Verhalten inakzeptabel und unter aller Sau ist. Es gibt Gesprächstechniken, wie man einem ausfälligen Menschen, den Wind aus den Segeln nehmen kann. Das würde aus meiner Sicht viel mehr bringen als Aussagen wie: Es gibt keine arroganten Kunden. Jede Reklamation ist eine Chance für dich.
Es wäre ein Leichtes, eine Austauschgruppe zu gründen, in der Betroffene sich über negative Erfahrungen austauschen könnten. Noch besser, wenn sie von einer Fachperson begleitet würde. Aber nein, die Kunden sind unsere Könige, auch wenn sich einige wie Diktatoren verhalten.
Ein Bekenntnis der Arbeitgeber: "Ja, es gibt arrogante, egoistische und überhebliche Kunden. Wir wissen das und nehmen euch wahr" wäre schon mal ein kleiner Schritt, in die richtige Richtung.
Ich war auch Täter
Vor einigen Jahren arbeitete ich als IT-Ansprechpartner in einer Abteilung von etwa 600 Personen. Dabei kümmerte ich mich um die speziellen Bedürfnisse meiner Kollegen, die nicht vom "normalen" IT-Support des Konzerns abgedeckt werden konnten. Während einem gefühlten Jahr musste ich gefühlt jeden 2. Tag anrufen, weil ein grösseres Problem nicht behoben werden konnte.
Dabei wurde ich arrogant, überheblich und ungeduldig. Ich realisierte lange Zeit nicht, dass mein Benehmen in keiner Weise zur Lösung beiträgt, im Gegenteil. Nach ein paar Tipps aus meinem Umfeld, versuchte ich es bewusst, mit einem 180 Grad anderen Verhalten. Ich war überfreundlich, verständnisvoll, geduldig (aber doch beharrlich), und respektierte meine Ansprechpartner als Gegenüber auf Augenhöhe. So ersparte ich ihnen ein negatives Gefühl und mir einige vorzeitige graue Haare.
Ich erfahre nun selbst, dass einige "Menschen" die Mitarbeitenden im direkten Kundenkontakt wie der letzte Dreck behandeln. Wir werden zu oft als Frust Entsorgung missbraucht. Viele wissen ganz genau, dass wir uns nicht angemessen wehren dürfen.
Ausser man tut es
Aus Dank für ihre Arbeit behandle ich die Menschen bewusst mit Respekt und Achtung. Ich bedanke mich stets für die freundliche und kompetente Bedienung. Das trifft in gefühlten 95 % der Fälle zu. Sonst sehe ich es als Motivation.
Werde ich sogar angelacht, antworte ich mit: "Ihr Lachen ist mega ansteckend." So haben die Menschen im Verkauf Freude und ich habe Freude, dass sie sich freuen. Richtig sprachlos werden sie, wenn ich ihnen für eine besonders gute Bedienung ein Präsent überreiche.
Ich sehe mich jetzt nicht als das Vorbild. Behandeln wir Mitarbeitende, die uns Kunden "dienen", doch einfach anständig. Dann kommen wir alle schneller, einfacher und entspannter ans Ziel.
Ich bedanke mich bei Pexels.com für das lizenzfreie Foto.