Konzentriere dich!
Noise Canceling…
…ist eine Funktion bei Kopfhörern, mit der man die Umgebungsgeräusche rausfiltern kann. So ist es z.B. möglich, im Zug Musik ohne die eintönigen Fahrgeräusche der Räder zu geniessen. Über so etwas ähnliches verfügen die meisten Menschen. Bis zu einem gewissen Grad können wir oder besser könnt ihr die Umgebung ausblenden um euch auf eine Aufgabe konzentrieren. Bei mir funktioniert das nur bedingt.
Ich höre immer alles…
…wenn zwei Personen zwei Abteile vor mir diskutieren, höre ich mit. Gleichzeitig telefoniert hinter mir jemand in französischer Sprache. Auch dieses Gespräch bekomme ich mit. Ich sehe auch, dass das Toilettenlicht auf Rot steht und der Zugbegleiter mit Bart das Abteil betritt. Wo andere sich nur schwer konzentrieren können, ist es für mich teilweise fast unmöglich, ausser ich lese ein dermassen interessantes Buch, dass es mich völlig in den Bann zieht. Dann vergesse ich komplett alles um mich, manchmal sogar auszusteigen.
Konzentriere dich…
…es kann doch nicht so schwer sein, diese einfache Aufgabe ohne Fehler zu erledigen. Mit solchen Aussagen sehen sich hochempfindsame Menschen immer wieder konfrontiert. Das hat mehrheitlich nichts mit unserer Intelligenz oder Motivation zu tun.
Hast du schon versucht eine Anleitung oder Sachbuch mit komplexen technischen Formulierungen im Zug zu lesen, währenddem dir gegenüber, im gleichen Abteil, sich zwei Freundinnen angeregt über den geplanten Ausgang unterhalten? Das ist selbst für Menschen ohne Hochempfindsamkeit (Hochsensibilität) recht schwierig.
Weil bei mir das menschliche Noise Cancelling nicht funktioniert, unterlaufen mir in einem lauten Umfeld genau diese Flüchtigkeitsfehler, die mir (zu Recht) angekreidet werden. Wenn ich mich in eine ruhige Ecke verziehen kann, nicht.
Ich bin problemlos in der Lage, komplexe Aufgaben speditiv und fehlerfrei zu erledigen, wenn ich in einem ruhigen Büro (am besten allein) sitze. An meiner vorherigen Stelle musste ich solche Konzentrationsarbeit erledigen. Ich sass in einem 30 m2 Büro, wo teilweise bis 5 Kollegen gleichzeitig telefonierten. Auf der linken Seite ist das Chefbüro, in dem manchmal sehr laut gesprochen wird. Vor uns befindet sich die Werkstatt. Dort wird gebohrt, gehämmert und die Teile immer wieder mit Druckluft gereinigt. Rechts von uns ist ein Schulungsraum. Unterteilt sind die Räume mit einfachen Industrietrennwänden und viel Glas. Für einen hochempfindsamen Menschen buchstäblich die Hölle.
Intensive Verarbeitung…
…ist typisch für Hochempfindsame. Nicht dass wir etwas zu langsam begreifen. Zuerst nehmen wir alles praktisch in uns auf auf, ohne zu filtern. Vom Geruch der Blume im Flur über die grellen Farben vom Bild in der Empfangshalle, das Mittagessen mit der Spur Koriander bis zur leicht angesäuerten Frage des Kollegen. Alles verarbeiten wir intensiv. Ich kann noch 14 Tage nach einem Essen genau beschreiben, wie die Sauce des Burgers geschmeckt hat. Besuche ich ein Musical, zehre ich emotional noch ein ganzes Jahr davon. Ich freue mich immer noch, wie einzigartig das Solo der Sängerin im 3. Akt geklungen hat.
Die Verarbeitung von Begegnungen mit Menschen kann manchmal zu einer Herausforderung werden. Neben dem Verbalen (der Sprache) spüre ich noch viel mehr Eindrücke von meinem Gegenüber. Ist er angespannt, ärgerlich, ablehnend, geht es ihm gut, ist er gesund u.v.m. Ich analysiere automatisch seinen Tonfall und versuche zu interpretieren, wie er meint, was er sagt. Wann ist seine Geduld mit mir am Ende?
Ich hasse Konflikte…
…und möchte nur meinen Frieden. Am liebsten falle ich weder positiv noch negativ auf. Ich will niemandem zur Last fallen und meine Arbeit erledigen. Trotzdem tue ich genau das immer wieder. Viele Menschen mit Personalverantwortung können leider hochempfindsame Menschen nicht einordnen
Da ich mich eher schlecht abgrenzen kann, nehme ich zu viele Konflikte zu persönlich. Wie bei einer selbsterfüllenden Prophetie werden sie dann zu (m)einem Problem, auch wenn sie es vorher nicht waren.
Wird eine Konfrontation (zu) persönlich, fehlen mir oft die Worte. Lieber schreibe ich. Trotz der Gefahr, dass ohne Rückmeldung von Angesicht zu Angesicht noch mehr falsch interpretiert werden kann, hilft mir das Schreiben, meine Gedanken und Gefühle besser einzuordnen.
Obschon sehr viele Mails geschrieben werden, haben die wenigsten Vorgesetzten Lust auf Analysen und Stellungsnahmen zu alltäglichen Problemen wie z.B. Flüchtigkeitsfehler.
Foto von Pexels