Cover Image

Der Glaube missbraucht

Glaube

…ein Weg, um mit dem Erlebten umzugehen. Für mich war es der Ausweg aus der ewigen Spirale von angegriffen fühlen, sich zurückziehen, an Depressionen zu ersticken und wieder neue Schritte zurück in die Gesellschaft zu wagen. Doch auch da habe ich eine (Missbrauchs) Geschichte

Vergib deinem Täter…

…und dir wird vergeben. Wir beten, dass du geheilt wirst. Aber ich konnte nicht vergeben. Wahrscheinlich habe ich zu wenig an meine Heilung geglaubt, denn danach waren alle Gefühle noch da, die Selbstmordgedanken, das fehlende Selbstwertgefühl. Nein nach Seelsorgesitzungen oder Therapiestunden fühlte ich mich oft noch schlechter und mir ging es verschissener als vorher

Ich kannte in den christlichen Kreisen keinen Mann, der auch missbraucht worden war. Anscheinend gab es einige homosexuell empfindende Menschen zu geben, aber ich bin nicht schwul im Gegenteil, in der Gegenwart von Männern die meine Sicherheitsgrenze überschritten (alles was über das Händeschütteln hinaus ging) wurde ich aggressiv. Nun sollte ich einfach vergeben und vergessen, was er mir angetan hat? Sind all meine miesen Gefühle unbegründet? Warum hat Gott den Missbrauch überhaupt zugelassen.

Wer glaubt hat keine…

…Probleme. Jesus heilt, errettet uns und schützt uns vor allen Schwierigkeiten. Schön wär’s, wenn es so wäre. Aber das versuchten mir gewisse Seelsorger klarzumachen. Gott darf nicht versagen, denn dann versagt das ganze System oder Leben. Ich glaube an einen allmächtigen Gott – aber ich glaube nicht, dass wir ihn mit unseren Gebeten oder Wünschen beeinflussen können. Als Kinder wollten wir vieles. Einiges haben wir von unseren Eltern erhalten anderes wurde uns nicht erfüllt, obwohl wir es uns so sehnlichst wünschten. Darum bin ich Menschen gegenüber skeptisch eingestellt, die versprechen oder fast garantieren, dass an ihren Veranstaltungen Wunder und Heilungen geschehen werden.

Christliche und/oder professionelle Beratung…

Durch meine Erlebnisse u.a. auch mit Menschen im kirchlichen Dienst wollte ich den Glauben auch schon an den Nagel hängen – aber zum Glück habe ich gelernt zwischen der Botschaft und das Überbringen zu unterscheiden. Gottes Bodenpersonal hat sich oft nicht sehr christlich verhalten. Ich will niemandem Absicht unterstellen und ich hoffe wirklich, dass ich ein Einzelfall war, denn es ging so manches schief. Leider erlebe ich das auch heute noch, mit dem Unterschied, dass ich jetzt mit Enttäuschungen und Verletzungen besser umgehen kann.

Ein schweizweit bekannter christlicher Berater, bei dem ich einen Kurs besuchte, war mit meiner Frage nach weiterführenden Therapieangeboten komplett überfordert und verwies mich als Opfer von sexuellem Missbrauch in vollem Ernst an eine Beratungsstelle für schwule Männer. Darum rate ich allen an, wenn sie Gewalt- oder Missbrauchserlebnisse erfahren mussten, wenden sie sich an eine professionelle Beratungsstelle, wenn diese nach christlichen Grundsätzen arbeitet noch besser – muss aber nicht sein.

Ich habe kein Lebensrecht!

Ein Erlebnis hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Als ich etwa 6 Jahre alt war, hielt mein Vater es wieder einmal für nötig, mir eine Standpauke zu halten: „Wenn du dies… Wenn du das… Wenn du jenes… dann hätten wir es so schön in unserer Familie“ Wenn du nur ein wenig mehr… dann hätten wir keine Probleme mehr in unserer Familie“ Damals realisierte ich, dass ich allein für das Glück, die Harmonie und die Zukunft unserer Familie verantwortlich bin.

Mir war aber auch klar, dass ich das Ziel meinem Vater 100prozentig zu gefallen niemals erreichen würde. Versucht habe ich es trotzdem immer wieder – mein Leben lang. Fast wäre ich daran zerbrochen. Ich fragte mich ernsthaft, warum ich überhaupt geboren wurde. Mein Selbstwertgefühl wurde durch meine Eltern systematisch und bewusst zerstört, so dass ich mich selbst lange Zeit als ein Stück Scheisse angesehen habe, das entsorgt werden muss – aber kein Recht auf Leben hat.

In der kirchlichen Jugendgruppe erfuhr ich zum ersten Mal, dass mich jemand so liebt wie ich bin, dass ich bei ihm nicht 100’000 Gesetze und Regeln erfüllen muss, bevor ich nur ein klein bisschen Anerkennung und Liebe erhalte. Diese Botschaft entzündete in mir einen kleinen Hoffnungsschimmer. Dann gibt es neben dem, was meine Eltern mir vermittelten noch etwas anderes…

Eigentlich liebt Gott mich nicht!

Das Leben wurde durch die Erfahrung, dass Gott mich liebt, nicht wirklich einfacher. Im Gegenteil, es wurde zur Hölle. Nun hatte ich auf der einen Seite mein Vater und Mutter die gezielt versuchten meine neue Hoffnung zu zerstören und auf der anderen Seite einen Gott, der zwar lieb aber dann auch wieder zornig sein kann. Ich wusste doch, dass die Sache einen Hacken hat. Als ich zum ersten Mal den Bibelvers „An ihren Taten werdet Ihr sie erkennen. “ Matthäus, 7, Vers 20 las, hatte ich ihn gefunden. Damit hatte ich auch bei Gott keine Chance. Meine Eltern hatten mir so oft gesagt, dass ich ein Versager bin und meine Leistungen nicht genügen, darum war ich auch der Meinung, dass Gott mich ganz sicher verwirft und niemals lieben kann.

Seelsorger oder Seelsarger?

Mit meiner Lebensgeschichte landete ich über kurz oder lang in der Seelsorge. Dabei wurde ich nach dem emotionellen und psychischen Missbrauch durch die Eltern, dem sexuellen durch den älteren Jungen zum 3. Mal missbraucht. Ich spreche hier nur von meinen persönlichen Erfahrungen. Aber was ich in dieser soggenannten Seelsorge erlebt habe, hat massgeblich zu meinem 1. Selbstmordversuch beigetragen. Schlagwörter wie: „Du glaubst einfach zu wenig! Du musst deinem Täter vergeben! waren normal. Wirklich helfen konnte mir niemand.

Als ich einem Prediger einen Hilferuf in Form meiner eigenen Todesanzeige schickte meinte er nur lapidar: „Das ist doch nicht so schlimm! Jetzt übertreibst du aber! Du wirst heil und gehst nicht kaputt.“ Er hatte von mir verlangt, meine tiefsten Ängste, Nöte und Probleme aufzuschreiben. Er hielt es nicht einmal für nötig es zu lesen! „Es ist doch bereits Hilfe genug, dass du dir es von der Seele schreiben konntest.“

Dabei habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass der Druck von mir genommen wird und dass ich nicht mehr kämpfen, sondern einfach leben kann und darf.

Christen sind nicht ehrlich!

War alles nur eine Einbildung? Wurde der Glaube von Menschen erfunden, um ihrer Sinnlosigkeit einen Sinn zu geben? Enttäuscht und verletzt entschloss ich mich, in Zukunft keinem Menschen und vor allem keinem Christen mehr zu vertrauen. Den Eltern waren meine Gefühle und Empfindungen offensichtlich egal.

Christen, denen ich bis jetzt begegnet bin waren auch nicht besser als die anderen Menschen. Offensichtlich gehörte es zu einem Christen eine Maske tragen zu müssen nirgends sonst ist mir so viel Verlogenheit begegnet. Diese überdreht glückliche Heile-Welt-Stimmung war für mich alles andere – nur nicht natürlich. Ich hätte viel dafür gegeben einem gläubigen Menschen zu begegnen der offen und ehrlich zu seinen Ängsten, Zweifeln und Problemen steht.

In dieser Zeit suchte ich vermehrt in Büchern nach Antworten. Da mir die Bibel schon damals unverständlich war und in mir mehr Fragen als Antworten auslöst suchte ich sonst wo nach Antworten. Ich weiss heute nicht mehr warum, aber das Buch Du liebst mich also bin ich hat mir sehr geholfen, den ersten Schritt in Richtung Heilung zu machen.

Gott liebt mich, egal was ich tue, wie ich mich fühle oder was ich bin. Diese Erkenntnis war die erste „Wahrheit“, auf die ich wirklich bauen konnte. Es war mein erster Glaubensschritt.

Du musst deinem Täter vergeben!

Mir ist Unrecht geschehen. Leute haben sich an mir vergangen. Sie haben Schuld auf sich geladen – und jetzt soll ich vergeben? Du musst vergeben wurde mir von verschiedenen Christen an den Kopf geworfen. Sie waren froh endlich eine Standardantwort auf meine Fragen gefunden zu haben. „Yes! Dem habe ich wieder einmal gezeigt, wo Gott sitzt und wo sein Problem!“

Warum verlangt Gott von mir zu vergeben? Er weiss doch was passiert ist. Er hat geschwiegen als ich vom Vater als Ursache für alle Familienprobleme bezeichnet wurde. Er hat zugesehen als ich missbraucht wurde. Er hat nichts gegen das Mobbing unternommen, das ich vom Chef ertragen musste.

Zuerst will ich Gerechtigkeit! Es kann nicht sein, dass Menschen, die an mir schuldig geworden sind, ungeschoren davonkommen! Sie müssen bestraft werden und haben sicher nicht meine Vergebung verdient. Ich kann das, was passiert ist auf keinen Fall vergessen!

Nach einer etwa 15jährigen Odyssee traf ich endlich auf einen Pfarrer, der es verstand, mir den tieferen Sinn der Vergebung zu erklären. Diese Erkenntnis ist zu meinem 2. Heilungsschritt geworden.

Was hat mein Leben für einen Wert?

Gott hat seinen Sohn für mich in den Tod geschickt. Ich stelle mir immer vor kurz vor der Verurteilung in der Todeszelle zu sitzen. Plötzlich taucht der Wärter auf und entlässt mich. Ein anderer hat für dich deine Schuld übernommen. Das ist die Grundlage des christlichen Glaubens. Meine Eltern haben von mir immer verlangt perfekt und vollkommen zu sein. Auch
wenn ich mich noch so anstrengte ihnen zu gefallen fanden sie immer wieder einen Punkt, der noch nicht ganz erfüllt worden ist.

Darum hat mir die Aussage, dass da jemand für mich in die Bresche springt, der vollkommen ist, sehr imponiert. Dadurch wurde ein enormer Druck von mir genommen. Mein Dasein wurde nicht mehr durch meine Leistung bestimmt, sondern alleine durch die Tatsache, dass ich Gott so viel wert war, dass er seinen eigenen Sohn für mich persönlich an das Kreuz schickte.

Vergeben heisst nicht vergessen!

Wenn jemand so einen Preis für mich bezahlt, dann muss schon etwas dran sein dass ich wertvoll und unbezahlbar bin. Darum nahm ich Gottes Vergebungsangebot an. Wenn ich aber für mich um Vergebung bitte, wie steht es denn mit dem 2. Teil des Gebetes „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“?

Ich wollte vergeben, fühlte mich aber gefühlsmässig überhaupt nicht in der Lage dazu. Auch konnte ich immer noch nicht akzeptieren, dass der Gott der Gerechtigkeit Unrecht und Leid einfach so vergessen kann. Vergeben – dazu konnte ich mich entscheiden – aber vergessen was mir angetan wurde – Nein!

Dazu habe ich mir eine rein mathematische Gleichung zurecht gelegt welche mir immer wieder hilft auch Menschen zu vergeben die mich wirklich tief verletzt haben: Ich entscheide mich das Angebot von Gott anzunehmen. Er übernimmt durch Jesus alle meine Schulden. Dadurch übergebe ich aber ihm nicht nur meine Schulden, sondern auch die, welche an mir
schuldig geworden sind.

Es ist nicht an mir die Schuld zu vergessen. Die Schuld und das Recht sie einzutreiben, liegt nun bei Gott. Ich habe meinem Täter vergeben! Was passiert aber, wenn ich ihn je wieder einmal sehen werde? Was kommen in mir für Gefühle hoch, wenn ich dem Mann gegenüber stehe der für so viel Scheiss in meinem Leben die Ursache war? Kan ich ihm gegenübertreten, als sei nie etwas passiert? Ist das wirklich notwendig? Ist man sonst kein Christ?

Gott lässt uns die Zeit, die wir brauchen, um innerlich zu genesen. Ich habe 3 Jahre mit meinem Vater überhaupt kein Wort gesprochen, obschon ich ihm vergeben habe. Aber ich musste mich einfach schützen, weil ich noch nicht stark genug war seine Äusserungen richtig einzuordnen. Über die Jahre hat sich unser Verhältnis geklärt und ich fahre z.B. mit ihm allein in die Ferien. Etwas, was ich mir vor einiger Zeit nicht im Traum hätte vorstellen können.

Gott weiss nicht, wie ich mich fühle!

Der wichtigste Punkt von Jesus Tod am Kreuz ist sicher die Vergebung, die wir dadurch „gratis“ erhalten. Das grösste Geschenk, was es überhaupt gibt.

Lange Zeit dachte ich, dass Gott nicht weiss, wie es mir wirklich geht. Er kennt meine Gefühle nicht. Wie sonst hätte er einfach zusehen können als dieser älter Junge mich missbrauchte. Warum hat er nichts unternommen als ich zur Lustbefriedigung herhalten musste. So ein Gott ist grausam.

Mit der Zeit habe ich realisiert, dass Jesus nicht nur an das Kreuz ging, um unsere Sünden zu tragen. Nein, dort wurden ihm auch alle Schmerzen, alle Ablehnung, der ganze Frust und die Verzweiflung auferlegt. Er verspürte am eigenen Leibe wie es mir ergangen ist.

Auf Gott als Vater kann ich verzichten!

Vater hat meine Gefühle oft bewusst mit den Füssen getreten. Ihm war egal wie es mir geht. Er verlangte stets noch mehr von mir. Meine Leistungen waren ihm nie gut genug. Es gab Zeiten da habe ich mir gewünscht er seit Tod. Nun soll ich mir Gott als liebenden Vater vorstellen. Ich habe ihn mir schon vorgestellt – aber automatisch mit dem gleichgesetzt, was ich in der Familien erleben musste. Ein Gedicht, welches ich in dieser Zeit geschrieben habe beschreibt am besten mein Verhältnis zu ihm.

Dein Gott!

Wo war dein Gott als ich weinte,
als ich mich verloren meinte,
er hat nur zugeschaut,
und ihm hab ich vertraut

Wo war dein Gott als ich rief,
als man mich zum Abgrund stiess,
er hat nur zugesehen,
wer soll denn das verstehen.

Wo war dein Gott als ich fragte,
als man mir nur Schlechtes sagte,
er hat nur zugesehen,
wie soll mein Schmerz vergehen.

Dein Gott soll doch zu mir kommen,
er hat mir die Freud genommen,
er hat nur zugeschaut,
und ihm hab ich vertraut.

24. September 1989

Gott hat sicher keine Zeit für mich!

So wie ich über mich dachte, hätte ich mir vorstellen können, dass sich Gott persönlich um mich kümmern würde. Ich war doch nur einer unter Millionen seiner Anhänger. Er hat genug zu tun die Erfolgreichen zu feiern. Ich habe mir immer vorgestellt was für ein Fest im Himmel veranstaltet wurde als Martin Luther in den Himmel kam und was passieren wird wenn es bei mir einmal so weit ist. Ich werde mich sicher durch die Hintertüre hereinschleichen.

Da mir durch meine Eltern kein Selbstwertgefühl vermittelt worden ist konnte ich mir echt nicht vorstellen von jemandem respektiert und geachtet zu werden. Unvorstellbar, dass ich von Gott gewollt bin, dass er mich annimmt wie ich bin, dass er sich bewusst entschieden hat und sagte: „Ja, Sandro verdient es gerettet zu werden. Auch wenn es das Leben meines Sohnes kosten wird.“

Im Kurs „Gottes Richtschnur“ der von Othmar und Elsbeth Stauffer aus Steffisburg geleitet wurde, ist mir zum ersten Mal in meinem Leben wirklich klar geworden, dass ich kein Dreck bin. Das war keine Selbstmotivation nach dem Motto „Du glaubst an Dich… Tschaga Du schaffst es.“ Die Erkenntnis aus diesem Kurs und der Bibel bilden noch heute das Fundament meines Selbstwertgefühls.

Vielen Dank Pexels für das kostenlose Foto