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Missbrauch - Vorher

Mein Rucksack..

…ein Missbrauch kommt selten allein. Meistens gibt es prägende Erlebnisse und Menschen in unserem Leben, die ihn begünstigen. Hätte Rolands Vater am Abend ihn und seine Mutter nicht ständig verprügelt… Wäre Sonja nicht in die Ferien zu ihrem Onkel geschickt worden… Wäre Helmut in ein anderes Internat gekommen… Es gibt sie immer, die Zeichen und Hilfeschreie. Wir müssen lernen, sie zu erkennen.

Ein tragisches Ereignis…

…sollte man nie auf die leichte Schulter nehmen. Wenn eine Frau eine Fehlgeburt erleidet und dieses tragische Ereignis nicht richtig verarbeitet, kann das weitreichende Folgen haben. Vor allem das Kind, was danach folgt, ist für das Leben gekennzeichnet. Alle Träume, Wünsche und Vorstellungen, die mit der Fehlgeburt zerstört, werden nun dem neuen Baby in die Wiege gelegt. Unter diesen Umständen ist es schwierig für das Kind, den Vorstellung seiner Eltern zu genügen. Seit ich denken kann verfolgt mich das Stigma knapp nicht zu genügen. Ich suche seit meiner Geburt nach Bestätigung und Anerkennung, die ich von meinem Vater wohl nie erhalten werde. Leider kann ich mich nicht an einen Moment erinnern wo er zu mir sagte, dass er stolz ist mich als Sohn zu haben.

Das Ende meiner Kindheit…

…war mit 6 Jahren. Ich hatte eine Dummheit angestellt, so wie es Kinder halt so machen. Am Abend vor dem zu Bett gehen wollte ich mich von den Eltern verabschieden. Das nahm mein Vater zum Anlass, mich ins Gebet zu nehmen. Was er sagte, war aber alles andere als ein Segen. Wen ich dies, dann hätte meine Mutter weniger Sorgen. Wenn ich das, dann hätten wir weniger Streit in der Familie. Wenn ich jenes, dann würde es der Familie besser gehen. Nach diesem Gespräch wusste ich, dass ich für alles Schlechte in der Familie verantwortlich war. An diesem Tag habe ich aufgehört Kind zu sein und habe eine unsichtbare Mauer um mich errichtet, denn ich wusste auf meine Eltern konnte ich mich nicht mehr verlassen.

Du bist nichts, Du kannst nichts…

…das tönt wie einer jener ausgelutschten Sätze, die man immer wieder hört. Für die Willensstarken unter uns ist es ein Ansporn trotzdem, sein Leben in die Hand zu nehmen und etwas daraus zu machen. Für die Abgestürzten ist es ein unüberwindbares Hindernis aus den Trümmern des eigenen Lebens etwas Neues, schönes entstehen zu lassen.  Wenn ein Kind in seiner Entwicklung nicht die lebensnotwendige Bestätigung und Ermutigung auf den Weg mitbekommt, ist es nicht fähig ein gesundes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl aufzubauen. Ich musste darum kämpfen und es einfordern, denn es wurde verweigert. Noch heute entgleitet es mir ab und zu. Dann fühle ich mich wieder wie das kleine Kind, was sich fragt, warum es überhaupt geboren wurde.

Du bist nicht gut genug...

…als ich in die Schule kam, begann für mich den Weg durch die Hölle. Eigentlich ging ich gerne in die Schule. Die Natur hat mich mit einer guten Auffassungsgabe und Gedächtnis beschenkt. Nur mit der Mathematik und dem Zeichnen hatte ich meine liebe Mühe. Das waren beides Fächer, in denen mein Vater brillierte. Die Heftgestaltung ist eine geschenkte Note. Er hatte eine 6, auch ich musste sie erreichen. Etwas anderes kam gar nicht infrage. Meine 4.5 war unter seiner Würde, was ich deutlich zu spüren bekam.

Viele Aufgaben, die ich eigentlich schon erledigt hatte, musste ich auf seinen Befehl noch einmal schreiben. Fehler- und makellos musste die Arbeitsblätter sein. Als ich bei einer Divisionsrechnung ihn um Hilfe bat, nahm er das zum Anlass mir das ganze 1 x 1 von Grund auf zu erklären. Es spielte keine Rolle, dass ich einen grossen Teil eigentlich schon begriffen hatte. Ich musste aufmerksam zu hören. Sonst… Ich kann mich persönlich an zwei Situationen erinnern, bei denen er mich schlug. Seine psychologischen Spielchen waren viel raffinierter. Diese Wunden sind unsichtbar. Dafür schmerzten sie viel länger.

Das ist deine Art…

…war mit 6 Jahren. Ich hatte eine Dummheit angestellt, so wie es Kinder halt so machen. Am Abend vor dem zu Bett gehen wollte ich mich von den Eltern verabschieden. Das nahm mein Vater zum Anlass, mich ins Gebet zu nehmen. Wenn du besser gehorchen würdest, dann hätten wir es einfacher in der Familie. Wenn du in der Schule besser aufpassen würdest, dann gäbe es weniger Streit in der Familie. Wenn du deine Arbeiten besser erledigen würdest, dann würde es der ganzen Familie besser gehen. An diesem Abend habe ich aufgehört, Kind zu sein. Von da an wusste ich, dass für alles, was in unserer Familie schiefläuft, ich die Schuld zu tragen habe. Ich durfte nicht mehr mich selber sein. Mein Vater, meine Lehrer, meine Vorgesetzten bestimmten ab da an wie ich zu sein habe, damit ich akzeptiert werde.

Aber wie ich mich auch anstrengte, wie sehr ich mich auch verbog, es reichte nie aus. Wenn ich meine Mutter fragte warum die andern Kinder nicht mir spielen wollte, bekam ich zur Antwort: „Das ist deine Art.“ Wenn ich in der Schule Mitschüler korrigierte, weil ich die richtige Antwort wusste, wurde ich von der Lehrerin geschlagen. Wieder einmal mehr erfuhr ich, dass ich mit meiner Art keinen Platz habe. Ich hätte wirklich alles getan, nur für einen kleinen Augenblick der Anerkennung.

Die Folgen davon waren…

…dass ich nie ein gesundes Selbstvertrauen aufbauen konnte. Alles, was ich machte und wie sehr ich mich auch anstrengte, es war immer, und ich meine immer, knapp nicht genügend. Mit 13 Jahren dachte ich das erste Mal daran, meinem Leben ein Ende zu setzen. Wenn ich Tabletten gefunden hätte, von denen ich wusste, dass eine Überdosis tödlich ist, hätte ich sie genommen. Mein Selbstwertgefühl, dass ich mühsam versuchte aufzubauen, wurde immer wieder bis auf das Fundament zerstört. Selbst das wurde mit Presslufthämmern bearbeitet. Wahrhaftig ideale Voraussetzungen für einen Missbrauch.


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