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Ich bin wirklich schuldig

Was war dein letzter Fehler? Wo und wie ist er passiert? In meinem Arbeitsumfeld ist es besonders schlimm für mich. Ich bin über 50 Jahre alt und darum auf meine Anstellung angewiesen. Am liebsten würde ich überhaupt nicht auffallen, weder positiv noch negativ. Eigentlich möchte ich doch nur ein verlässliches Teammitglied sein. Wie das Leben so spielt, meine Konzentrationsschwäche hat zu Unstimmigkeiten in der Buchhaltung geführt und meinem Arbeitgeber einen grossen Mehraufwand beschert.

Eine Verfehlung ist natürlich Salz in meine Wunden. Um so mehr Staub dabei aufgewirbelt wird, um so tiefer möchte ich mich verstecken, damit mich die Standpauke nicht so hart trifft. Wenn ich weiss, dass ich wirklich allein, zu 100% der Verursacher bin, würde ich am liebsten sterben. Zumindest, bis die Erinnerung an meine Dummheit verblasst.

Durch meinen Lebensweg, den durchlebten Missbrauch und die Hochempfindsamkeit, kann ich mich auch mit meinen 53 Jahren sehr schlecht abgrenzen. Mir fällt es enorm schwer, ein Ereignis einzuordnen, und seine Auswirkungen auf andere und mich abzuschätzen. 

Gibt es eine Standpauke, einen ZS oder wird mir sogar die Kündigung angedroht? Ich rechne buchstäblich mit dem Schlimmsten, und hoffe trotzdem, dass es nicht eintreffen wird. Vor allem, wie kann ich erreichen, dass mir der gleiche Scheiss wirklich nie mehr, auch nicht in 100 Jahren noch ein zweites Mal passiert? 

Relax, komm mal runter, du musst dich neu einmitten. All das sind gute und gutgemeinte Ratschläge. Doch was nützen sie mir, wenn ich wieder einmal ins Bodenlose falle? Wie kann ich meinen Fall abbremsen? Vor 30 Jahren ging es so weit, dass ich mir oft überlegte, mir etwas anzutun. So weit bin ich zum Glück nicht mehr, trotzdem stehe ich teilweise immer noch vor einem Scherbenhaufen, und hab das Gefühl, zurückgeworfen zu sein.

Begründete Fehler von mir vermischen sich mit Interpretationen von Reaktionen und Stimmungen, die ich wahrnehme. Als hochempfindsamer Mensch, liege ich mit vielen dieser Eindrücke richtig - aber auch mit einigen falsch. Wie sieht mein Umfeld mich, was habe ich für ein Bild von mir und wie bin ich wirklich? Welches Bild will vermitteln und welche Maske muss ich tragen, weil meine Art gesellschaftlich nicht akzeptiert wird?

Wann bin ich wirklich schuldig?

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Gesundheit - das (Tabu)Thema

Was hast du für Geheimnisse? Was wissen die Menschen an der Arbeit über dich? Was kennt deine Partner*in nicht über dich? Ich bin definitiv kein Freund von Seelenstriptease und der Meinung, dass selbst liierte Paaren nicht alles von sich wissen müssen. Aber wie offen kannst du im nahen Beziehungsnetz und im beruflichen Umfeld offen über deine Gesundheit sprechen?

Über körperliche Erkrankungen oder Unfälle geht das noch relativ einfach. Aber es sieht bereits anders aus, wenn sich daraus etwas Chronisches entwickelt. Wenn man nicht mehr in der Lage ist, die erforderliche (körperliche) Leistung zu erbringen, ist man ganz schnell weg vom Fenster. In der Privatindustrie bereits ab 3 Monaten, bei bundesnahen Betrieben, ist nach 2 Jahren krankheitsbedingter Abwesenheit eine weitere Beschäftigung zumindest fraglich.

Im Arbeitsumfeld hängt sehr viel von den direkten Vorgesetzten ab, meiner Meinung zu viel. Wenn diese Person, eine psychische Erkrankung als "nicht so schlimm" oder Simulieren einstuft, ist der weitere Weg von Steinen übersät, wenn nicht sogar zugeschüttet. Was habe ich für Möglichkeiten, wenn ich mit dem Chef nicht klarkomme? Dann soll ich mich an den nächst höheren Vorgesetzten wenden. Was für ein Bullshit! Der wird sich in 99.9% der Fälle garantiert nicht gegen seine, von ihm eingesetzte Führungsperson wenden.

Darum werden psychische Erkrankungen so lange wie möglich geheim gehalten. Die Arbeitskolleg*innen merken es aber trotzdem. Wenn man im Beruf ständig eine Maske tragen muss, erzeugt das zusätzlichen Druck und Stress. Praktisch immer kommt es zu einem Knall.

Auch wir Männer haben unsere Tage. Ich habe aber noch nie erlebt, dass jemand in einer solchen Situation zum Chef ging: "Mir geht es psychisch schlecht, kann ich mich für morgen krankschreiben lassen?" Warum ist es nicht genauso selbstverständlich zu Hause bleiben zu können wie bei einem Migräneanfall oder bei Durchfall?

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Bloss keine Konflikte



…ich will mit niemandem Stress. Lass uns unsere Arbeit machen und danach wieder nach Hause gehen. Schön, wenn wir uns auf Augenhöhe begegnen können und im gegenseitigen Respekt miteinander umgehen. Vielleicht finden wir sogar ein gemeinsames Thema, über das wir uns beide austauschen können. Das erleichtert die Zusammenarbeit, muss aber nicht sein.

Ich versuche Auseinandersetzungen nach Möglichkeiten zu vermeiden. Manchmal gehe ich ihnen auch bewusst aus dem Weg. Durch meine Hochempfindsamkeit nehme ich Konflikte viel intensiver wahr. Oft habe ich Mühe zu filtern, wie etwas gemeint ist.

Mir kommt die volle Ladung der Gefühle von meinem Gegenüber entgegen. Oft spüre ich es jemand meint, trotz seiner beschönigenden, positiv gefärbten Worte. Am liebsten würde ich mich in einem solchen Moment zurückziehen und alle Eindrücke fein säuberlich sortieren und einordnen und erst danach antworten. Aber das geht meistens nicht.

Darum reagiere ich oft abweisend und teilweise heftig, und dass nur, weil ich mich schützen muss. Wir wollen dir nichts Böses, ist was ich öfters zu hören bekomme. In den meisten Fällen stimmt das auch. Ich bin aber einfach nicht in der Lage zwischen all den unverarbeiteten Eindrücken, den richtigen hervorzuholen.

Weil mein (Arbeits)Umfeld das oft nicht versteht, werde ich zum Gesprächsthema. Den komischen, unliebsamen Arbeitskollegen, mit dem man seine Probleme hat. So gerate ich wieder in Konflikte. Etwas, was ich auf jeden Fall vermeiden will.

Darum arbeite ich an mir, passe mich an, schliesse Kompromisse, bis ich mich dabei komplett aufgebe und selbst verleugne.

Aussprachen und wie weiter…

Kürzlich hat ein Arbeitskollege behauptet, ich habe ihm hinter meinem Rücken den Stinkefinger gezeigt. Da ich an der Arbeit arbeiten und keine Konflikte lösen will, vermeide ich so etwas natürlich. Er hat den Dienstweg vorgezogen, anstatt mich direkt anzusprechen. Einige Wochen später wurde ich von meinem Teamleiter, der vom Vorgesetzten des Kollegen ein Mail erhalten hat, darauf angesprochen.

Leider haben die wenigsten Menschen, mich eingeschlossen, keinen Mumm, Konflikte direkt anzusprechen. Obschon wir alle von uns die Meinung haben, nicht zu beissen und durchaus gesprächsbereit zu sein.

Der Kollege grüsste mich nicht mehr und ging mir aus dem Weg. Bis ich vor dem Verlassen des Büros, mich vom Disponenten verabschiedete, und ihn explizit wiederholt grüsste, weil er geschwiegen hatte. So ist es quasi zu einer Aussprache gekommen. Im Gegensatz zu anderen Situationen, habe ich sie praktisch erzwungen. Denn ich hatte keine Angst, weil ich weiss, dass seine Anschuldigungen unbegründet sind.

Kompromisse fühlen sich oft Scheisse an…

Er bedrohte mich. „Meine Aussage, dass ich ihm den Stinkefinger nicht gezeigt habe, akzeptiere er nicht. Er fordere eine Entschuldigung, sonst gehe er ein Schritt weiter. Soll er doch dachte ich mir, ich bin im Recht und er kann mir nichts beweisen, dass meiner Meinung gar nie stattgefunden hat.

Ich weiss nicht, ob es trotzdem Angst war, oder das Gefühl kräftemässig die Eskalation dieses Konfliktes nicht zu bewältigen. Darum suchte ich nach einer Kompromisslösung, bei der er das Gesicht wahren konnte und ich nichts entschuldigen musste, was ich nicht gemacht habe. So sah sie aus:

Als Kompromiss, teilte ich ihm mit, dass er eventuell eine Handbewegung von mir so interpretiert haben könnte. Wenn, dann sei das höchstens unbewusst und ohne jede Absicht so rübergekommen. Ich gestikuliere öfters und kann mich nicht an jede Bewegung erinnern.

Warum fühlt sich diese Kompromisslösung so an, als hätte ich verloren? Ich habe das unterschwellige Gefühl besiegt worden und klein beigegeben zu haben.

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Konzentriere dich!



Noise Canceling…

…ist eine Funktion bei Kopfhörern, mit der man die Umgebungsgeräusche rausfiltern kann. So ist es z.B. möglich, im Zug Musik ohne die eintönigen Fahrgeräusche der Räder zu geniessen. Über so etwas ähnliches verfügen die meisten Menschen. Bis zu einem gewissen Grad können wir oder besser könnt ihr die Umgebung ausblenden um euch auf eine Aufgabe konzentrieren. Bei mir funktioniert das nur bedingt.

Ich höre immer alles…

…wenn zwei Personen zwei Abteile vor mir diskutieren, höre ich mit. Gleichzeitig telefoniert hinter mir jemand in französischer Sprache. Auch dieses Gespräch bekomme ich mit. Ich sehe auch, dass das Toilettenlicht auf Rot steht und der Zugbegleiter mit Bart das Abteil betritt. Wo andere sich nur schwer konzentrieren können, ist es für mich teilweise fast unmöglich, ausser ich lese ein dermassen interessantes Buch, dass es mich völlig in den Bann zieht. Dann vergesse ich komplett alles um mich, manchmal sogar auszusteigen.

Konzentriere dich…

…es kann doch nicht so schwer sein, diese einfache Aufgabe ohne Fehler zu erledigen. Mit solchen Aussagen sehen sich hochempfindsame Menschen immer wieder konfrontiert. Das hat mehrheitlich nichts mit unserer Intelligenz oder Motivation zu tun.

Hast du schon versucht eine Anleitung oder Sachbuch mit komplexen technischen Formulierungen im Zug zu lesen, währenddem dir gegenüber, im gleichen Abteil, sich zwei Freundinnen angeregt über den geplanten Ausgang unterhalten? Das ist selbst für Menschen ohne Hochempfindsamkeit (Hochsensibilität) recht schwierig.

Weil bei mir das menschliche Noise Cancelling nicht funktioniert, unterlaufen mir in einem lauten Umfeld genau diese Flüchtigkeitsfehler, die mir (zu Recht) angekreidet werden. Wenn ich mich in eine ruhige Ecke verziehen kann, nicht.

Ich bin problemlos in der Lage, komplexe Aufgaben speditiv und fehlerfrei zu erledigen, wenn ich in einem ruhigen Büro (am besten allein) sitze. An meiner vorherigen Stelle musste ich solche Konzentrationsarbeit erledigen. Ich sass in einem 30 m2 Büro, wo teilweise bis 5 Kollegen gleichzeitig telefonierten. Auf der linken Seite ist das Chefbüro, in dem manchmal sehr laut gesprochen wird. Vor uns befindet sich die Werkstatt. Dort wird gebohrt, gehämmert und die Teile immer wieder mit Druckluft gereinigt. Rechts von uns ist ein Schulungsraum. Unterteilt sind die Räume mit einfachen Industrietrennwänden und viel Glas. Für einen hochempfindsamen Menschen buchstäblich die Hölle.

Intensive Verarbeitung…

…ist typisch für Hochempfindsame. Nicht dass wir etwas zu langsam begreifen. Zuerst nehmen wir alles praktisch in uns auf auf, ohne zu filtern. Vom Geruch der Blume im Flur über die grellen Farben vom Bild in der Empfangshalle, das Mittagessen mit der Spur Koriander bis zur leicht angesäuerten Frage des Kollegen. Alles verarbeiten wir intensiv. Ich kann noch 14 Tage nach einem Essen genau beschreiben, wie die Sauce des Burgers geschmeckt hat. Besuche ich ein Musical, zehre ich emotional noch ein ganzes Jahr davon. Ich freue mich immer noch, wie einzigartig das Solo der Sängerin im 3. Akt geklungen hat.

Die Verarbeitung von Begegnungen mit Menschen kann manchmal zu einer Herausforderung werden. Neben dem Verbalen (der Sprache) spüre ich noch viel mehr Eindrücke von meinem Gegenüber. Ist er angespannt, ärgerlich, ablehnend, geht es ihm gut, ist er gesund u.v.m. Ich analysiere automatisch seinen Tonfall und versuche zu interpretieren, wie er meint, was er sagt. Wann ist seine Geduld mit mir am Ende?

Ich hasse Konflikte…

…und möchte nur meinen Frieden. Am liebsten falle ich weder positiv noch negativ auf. Ich will niemandem zur Last fallen und meine Arbeit erledigen. Trotzdem tue ich genau das immer wieder. Viele Menschen mit Personalverantwortung können leider hochempfindsame Menschen nicht einordnen

Da ich mich eher schlecht abgrenzen kann, nehme ich zu viele Konflikte zu persönlich. Wie bei einer selbsterfüllenden Prophetie werden sie dann zu (m)einem Problem, auch wenn sie es vorher nicht waren.

Wird eine Konfrontation (zu) persönlich, fehlen mir oft die Worte. Lieber schreibe ich. Trotz der Gefahr, dass ohne Rückmeldung von Angesicht zu Angesicht noch mehr falsch interpretiert werden kann, hilft mir das Schreiben, meine Gedanken und Gefühle besser einzuordnen.

Obschon sehr viele Mails geschrieben werden, haben die wenigsten Vorgesetzten Lust auf Analysen und Stellungsnahmen zu alltäglichen Problemen wie z.B. Flüchtigkeitsfehler.

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Missbrauch - Vorher

Mein Rucksack..

…ein Missbrauch kommt selten allein. Meistens gibt es prägende Erlebnisse und Menschen in unserem Leben, die ihn begünstigen. Hätte Rolands Vater am Abend ihn und seine Mutter nicht ständig verprügelt… Wäre Sonja nicht in die Ferien zu ihrem Onkel geschickt worden… Wäre Helmut in ein anderes Internat gekommen… Es gibt sie immer, die Zeichen und Hilfeschreie. Wir müssen lernen, sie zu erkennen.

Ein tragisches Ereignis…

…sollte man nie auf die leichte Schulter nehmen. Wenn eine Frau eine Fehlgeburt erleidet und dieses tragische Ereignis nicht richtig verarbeitet, kann das weitreichende Folgen haben. Vor allem das Kind, was danach folgt, ist für das Leben gekennzeichnet. Alle Träume, Wünsche und Vorstellungen, die mit der Fehlgeburt zerstört, werden nun dem neuen Baby in die Wiege gelegt. Unter diesen Umständen ist es schwierig für das Kind, den Vorstellung seiner Eltern zu genügen. Seit ich denken kann verfolgt mich das Stigma knapp nicht zu genügen. Ich suche seit meiner Geburt nach Bestätigung und Anerkennung, die ich von meinem Vater wohl nie erhalten werde. Leider kann ich mich nicht an einen Moment erinnern wo er zu mir sagte, dass er stolz ist mich als Sohn zu haben.

Das Ende meiner Kindheit…

…war mit 6 Jahren. Ich hatte eine Dummheit angestellt, so wie es Kinder halt so machen. Am Abend vor dem zu Bett gehen wollte ich mich von den Eltern verabschieden. Das nahm mein Vater zum Anlass, mich ins Gebet zu nehmen. Was er sagte, war aber alles andere als ein Segen. Wen ich dies, dann hätte meine Mutter weniger Sorgen. Wenn ich das, dann hätten wir weniger Streit in der Familie. Wenn ich jenes, dann würde es der Familie besser gehen. Nach diesem Gespräch wusste ich, dass ich für alles Schlechte in der Familie verantwortlich war. An diesem Tag habe ich aufgehört Kind zu sein und habe eine unsichtbare Mauer um mich errichtet, denn ich wusste auf meine Eltern konnte ich mich nicht mehr verlassen.

Du bist nichts, Du kannst nichts…

…das tönt wie einer jener ausgelutschten Sätze, die man immer wieder hört. Für die Willensstarken unter uns ist es ein Ansporn trotzdem, sein Leben in die Hand zu nehmen und etwas daraus zu machen. Für die Abgestürzten ist es ein unüberwindbares Hindernis aus den Trümmern des eigenen Lebens etwas Neues, schönes entstehen zu lassen.  Wenn ein Kind in seiner Entwicklung nicht die lebensnotwendige Bestätigung und Ermutigung auf den Weg mitbekommt, ist es nicht fähig ein gesundes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl aufzubauen. Ich musste darum kämpfen und es einfordern, denn es wurde verweigert. Noch heute entgleitet es mir ab und zu. Dann fühle ich mich wieder wie das kleine Kind, was sich fragt, warum es überhaupt geboren wurde.

Du bist nicht gut genug...

…als ich in die Schule kam, begann für mich den Weg durch die Hölle. Eigentlich ging ich gerne in die Schule. Die Natur hat mich mit einer guten Auffassungsgabe und Gedächtnis beschenkt. Nur mit der Mathematik und dem Zeichnen hatte ich meine liebe Mühe. Das waren beides Fächer, in denen mein Vater brillierte. Die Heftgestaltung ist eine geschenkte Note. Er hatte eine 6, auch ich musste sie erreichen. Etwas anderes kam gar nicht infrage. Meine 4.5 war unter seiner Würde, was ich deutlich zu spüren bekam.

Viele Aufgaben, die ich eigentlich schon erledigt hatte, musste ich auf seinen Befehl noch einmal schreiben. Fehler- und makellos musste die Arbeitsblätter sein. Als ich bei einer Divisionsrechnung ihn um Hilfe bat, nahm er das zum Anlass mir das ganze 1 x 1 von Grund auf zu erklären. Es spielte keine Rolle, dass ich einen grossen Teil eigentlich schon begriffen hatte. Ich musste aufmerksam zu hören. Sonst… Ich kann mich persönlich an zwei Situationen erinnern, bei denen er mich schlug. Seine psychologischen Spielchen waren viel raffinierter. Diese Wunden sind unsichtbar. Dafür schmerzten sie viel länger.

Das ist deine Art…

…war mit 6 Jahren. Ich hatte eine Dummheit angestellt, so wie es Kinder halt so machen. Am Abend vor dem zu Bett gehen wollte ich mich von den Eltern verabschieden. Das nahm mein Vater zum Anlass, mich ins Gebet zu nehmen. Wenn du besser gehorchen würdest, dann hätten wir es einfacher in der Familie. Wenn du in der Schule besser aufpassen würdest, dann gäbe es weniger Streit in der Familie. Wenn du deine Arbeiten besser erledigen würdest, dann würde es der ganzen Familie besser gehen. An diesem Abend habe ich aufgehört, Kind zu sein. Von da an wusste ich, dass für alles, was in unserer Familie schiefläuft, ich die Schuld zu tragen habe. Ich durfte nicht mehr mich selber sein. Mein Vater, meine Lehrer, meine Vorgesetzten bestimmten ab da an wie ich zu sein habe, damit ich akzeptiert werde.

Aber wie ich mich auch anstrengte, wie sehr ich mich auch verbog, es reichte nie aus. Wenn ich meine Mutter fragte warum die andern Kinder nicht mir spielen wollte, bekam ich zur Antwort: „Das ist deine Art.“ Wenn ich in der Schule Mitschüler korrigierte, weil ich die richtige Antwort wusste, wurde ich von der Lehrerin geschlagen. Wieder einmal mehr erfuhr ich, dass ich mit meiner Art keinen Platz habe. Ich hätte wirklich alles getan, nur für einen kleinen Augenblick der Anerkennung.

Die Folgen davon waren…

…dass ich nie ein gesundes Selbstvertrauen aufbauen konnte. Alles, was ich machte und wie sehr ich mich auch anstrengte, es war immer, und ich meine immer, knapp nicht genügend. Mit 13 Jahren dachte ich das erste Mal daran, meinem Leben ein Ende zu setzen. Wenn ich Tabletten gefunden hätte, von denen ich wusste, dass eine Überdosis tödlich ist, hätte ich sie genommen. Mein Selbstwertgefühl, dass ich mühsam versuchte aufzubauen, wurde immer wieder bis auf das Fundament zerstört. Selbst das wurde mit Presslufthämmern bearbeitet. Wahrhaftig ideale Voraussetzungen für einen Missbrauch.


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Missbrauch - die Tat

Da ich von meinen Eltern nie aufgeklärt worden bin, war ich mit all den neuen Gefühlen und was mit meinem Körper passierte, ziemlich überfordert. Meine damalige Vorstellung von Sex war: „Völlig nackt zu sein, wenn ein anderer Mensch dich sieht.“ Ich wusste, dass Männer und Frauen sich auszogen und dabei erregt wurden, aber das war auch schon alles. Es fing alles mit „harmlosen“ Doktorspielen an. Doch die Grenze ist leider viel zu schnell überschritten und dann kommt es zu Überschreitungen, welche uns ein Leben lang verfolgen können.

Eigentlich wollte ich aufhören, eigentlich wollte ich Nein sagen und mich wehren, aber es kam alles ganz anders. Er verlangte von mir, dass ich ihn oral und anal befriedigte und er das auch mit mir machen konnte. Natürlich gehörte das Schlucken von seinem Sperma auch dazu. Einmal steckte er mir seinen Pimmel so tief in den Mund, dass ich mich übergeben musste. Und so ging es immer weiter. Als die Geschlechtsteile durch waren, kam der ganze Körper dran. Ich musste alle seine Öffnungen mit der Zunge verwöhnen. Sein liebstes Spiel war der Mechaniker. Er kniete sich über mich und ich musste an seinem Schwanz saugen, während er sich genüsslich hoch und runterbewegte.

Warum habe ich mich nicht gewehrt? Ich wollte es doch und hatte irgendwie Spass daran – oder doch nicht?  Also bin ich schuld, denn ich hätte es doch verhindern können. Mein Aussehen war mir nie besonders wichtig, aber seit diesem Zeitpunkt begann ich meinen Körper zu zerstören. Ich bin nichts wert, man kann mich benutzen, wie man will. Das Wegschmeissen erledige ich schon alleine. Seit dem Missbrauch konnte ich mir nicht mehr ins Gesicht schauen. Ich fühlte mich wie ein lebendiges Stück Scheisse.

Als ich in den Ferien bei ihm war haben wir es jeden Abend getrieben, zuerst auf dem Klo und dann im Bett. Ich wurde immer abhängiger von ihm und machte alles, was er von mir verlangte, denn ich wollte ihn doch nicht verlieren, meinen einzigen und bis jetzt letzten besten Freund.


Ein Übergriff gleich…


…welcher Art, ob verbal, gewalttätig oder sexuell stürzt das Opfer über eine Felsenklippe hinaus. Es fällt ins Bodenlose und verliert jeglichen Halt. Mit dem folgenden Text versuche ich bildlich zu veranschaulichen, wie sie ein Opfer fühlt. (Mit Opfer meine ich Mann und/oder Frau und mit Partner meine ich auch Partnerin)

Mein eigenes Haus…

…habe ich mit Liebe aufgebaut. Im Garten blühen wundervolle Beziehungen. Ich pflege sie regelmässig, auch die welche ein bisschen abseits wachsen. Meine Türe steht grundsätzlich immer offen, denn ich will meine Zeit nicht alleine und zurückgezogen verbringen. Wenn jemand mit Sorgen zu mir kommt, so nehme ich mir Zeit und höre ihm zu.

Ich liebe es, Leute zu verwöhnen und beschenken. Darum verbringe ich viel Zeit in meiner Küche, meine Besucher sollen sich bei mir wie zu Hause fühlen. Die Stube habe ich gemütlich eingerichtet, mit viel Platz für Gemeinschaft.

Das Schlafzimmer ist der Ort, in dem ich Zeit mit meinem Partner verbringen werde. Er ist am persönlichsten eingerichtet, dort ziehe ich mich zurück, um mich zu erholen. An der Wand habe ich mein Herz aufgehängt, Gedanken und Erlebnisse, die nur mich etwas angehen. Schöne Momente, aber auch Sachen, die mich berührt haben.


Als der Bagger kam…


…ganz plötzlich und unerwartet. Ich habe ihn gehört als er in unsere Strasse eingebogen ist, aber dann war es bereits zu spät. Er fuhr meinen Zaun nieder und ohne zu bremsen in meinen Blumengarten. Damit nicht genug, der Täter durchbrach die Wand zur Küche und danach durchquerte er die Stube und hob die Türe zu meinem Schlafzimmer aus den Angeln


Im Schlafzimmer…


…stellte er seine Maschine stieg aus und fing an meine Erinnerungen von den Wänden zu reissen und sie auf dem Boden zu zertrampeln. Danach setzte er den Bagger wieder in Gang und drehte Kreise, dort wo einmal mein Bett gestanden hatte.

Als er endlich genug hatte, gab er Gas und fuhr so wie er gekommen war aus meinem Haus oder das, was von ihm noch übriggeblieben war.


Die Nachbarn kamen alle…


…und gafften durch das Loch in der Ruine direkt in mein Schlafzimmer. Ganz dreiste wagten sich sogar in den Garten und zerstörten noch den Rest meiner einst so schönen Blumen. Ich konnte nichts tun. Unfähig mich zu bewegen, kauerte ich in der hintersten Ecke meines Zimmers, um mir die Scherben meines Lebens. Die Träume alle zerstört, mit Schlamm und Kot bedeckt. Irgendwie musste ich mich nun schützen, doch ich hatte keine Kraft die Gaffer aus meinem Haus und Garten zu vertreiben.


Als es dunkel wurde…

…holte ich, was ich an Steinen und Geröll finden konnte und schichtete alles vor meinem Haus auf. Danach hob ich davor einen grossen Graben aus, den niemand überqueren konnte. Zusätzlich zog ich Stacheldraht um die Festung, welche einmal mein Leben gewesen war. Damit mich nie mehr jemand verletzen konnte, deckte ich mich mit Waffen ein.

Der Täter war…


…ungefragt in mein Innerstes eingedrungen und hat es zerstört. Mein Herz, meine Sexualität, die ich eigentlich meinem Partner schenken wollte, hat er sich genommen, ohne zu fragen und mit einem Grinsen auf dem Gesicht. „Du hast es doch auch gewollt“.

Er hat meine Persönlichkeit mir, wie ein rohes Ei aus den Händen gerissen und auf dem Boden zerschlagen. Als ich versuchte die Überbleibsel vom Bordstein aufzukratzen ist er mir dabei noch auf die Hände gestanden und hat höhnisch zu mir runtergeschaut und ins Gesicht gespuckt.